Wasserstoff und Power-to-X stehen am Beginn eines technologischen und wirtschaftlichen Booms. Welche Chancen bieten sie für die deutsche und europäische Maschinenbauindustrie? Wie sind die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt? Dr. Carola Kantz, stellvertretende Geschäftsführerin der VDMA-Arbeitsgemeinschaft Power-to-X for Applications, gibt einen Ausblick.
Frau Kantz, warum ist Power-to-X ein so faszinierendes Konzept?
Ich verstehe unter Power-to-X die gesamte Wertschöpfungskette der Umwandlung von erneuerbarem Strom in Moleküle. Natürlich kann man Wasserstoff mit einem Elektrolyseur herstellen und ihn direkt nutzen, zum Beispiel in einer Brennstoffzelle, in der chemischen Industrie oder zur Herstellung von CO2-freiem Stahl. Man kann Wasserstoff auch als Energiespeicher nutzen und in Gasturbinen wieder verstromen. Aber man kann Wasserstoff darüber hinaus in andere Energieträger umwandeln und darum geht es bei Power-to-X. Das können klimaneutrale Gase, Kraftstoffe oder Grundstoffe für die chemische Industrie sein. Der Nachteil dieser Prozesse ist, dass bei jedem Umwandlungsschritt Energie verloren geht, der große Vorteil ist jedoch, dass man diese Gase und Brennstoffe mit der vorhandenen Infrastruktur nutzen kann.
Es hat vor Jahren schon einmal einen Hype um grünen Wasserstoff und Power-to-X gegeben. Wie können wir sicher sein, dass die Erwartungen dieses Mal erfüllt werden?
In der letzten Zeit haben viele Staaten eine nationale Wasserstoffstrategie verabschiedet, darunter Japan, Südkorea, die Niederlande, Deutschland. Wir erwarten, dass Marokko, China und Russland bis zum nächsten Jahr ebenfalls eine Wasserstoffstrategie verabschieden. Man bedenke nur, dass sich allein die Europäische Union ein Ziel von 40 Gigawatt Elektrolyseur-Leistung bis 2030 gesetzt hat. Dieses Ziel bedeutet eine kumulierte Marktgröße für Elektrolyseure und Anlagen von mehr als 40 Milliarden Euro.
Aber es geht der EU auch um ihre Klimaziele. Wie wichtig ist Power-to-X hier als Baustein?
Die EU will bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden – und ist damit nicht allein: Das Pariser Abkommen ist ein globales Abkommen. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir dieses Ziel global erreichen können. Da ist Power-to-X die Lösung, um erneuerbaren Strom in andere Energieträger umzuwandeln. Denken Sie nur an den Straßenverkehr, da werden flüssige Kraftstoffe benötigt, um die Elektromobilität zu ergänzen. Derzeit zählt die europäische Pkw-Flotte 270 Millionen Fahrzeuge, jedes Jahr werden 15 Millionen Autos neu zugelassen. Den Verbrennungsmotor wird es mithin noch eine Weile geben. Also brauchen wir Lösungen, um ihn klimaneutral zu nutzen.
Was würde es für die deutsche Wirtschaft bedeuten, wenn wir ansonsten schwer zu dekarbonisierende Industrien und Anwendungsfälle wie Seeschifffahrt, Stahlerzeugung, Luftfahrt mit Power-to-X erfolgreich dekarbonisieren?
Power-to-X beinhaltet eine lange Wertschöpfungskette mit vielen Komponenten, die zum Glück in Europa noch vorhanden sind – oder ganz neu entstehen. Das kann viele neue Arbeitsplätze schaffen. Studien zeigen allein für Deutschland bei einem ambitionierten Markthochlauf von Power-to-X fast eine halbe Million neuer Arbeitsplätze. Wir erwarten allerdings auch, dass die meisten Anlagen in wind- und sonnenreichen Gebieten rund um den Globus errichtet werden. Strom könnte ein wichtiger Rohstoff für die internationalen Energiemärkte werden, so wie es heute Öl und Gas sind.
Gleicht die Situation nicht der im Solarbereich? Ursprünglich war Deutschland da führend. Wir haben viele Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen. Und dann haben wir von einem Tag auf den anderen diese Arbeitsplätze verloren, weil China billiger und in viel größerem Maßstab produzieren konnte. Droht eine Wiederholung dieses Szenarios, wenn es um Power-to-X geht?
Das ist eine wichtige Frage. Unsere Unternehmen streben eine international wettbewerbsfähige Power-to-X-Industrie an, die ihre Technologielösungen weltweit exportieren kann. Deshalb fordern wir als VDMA einen ehrgeizigen Markthochlauf in den Bereichen, in denen eine hohe Zahlungsbereitschaft besteht. Die ersten Power-to-X-Anlagen werden nämlich kostspielig sein. Man muss also First Mover ansprechen, die bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen. Das könnte genau der Verkehrssektor sein. Die Europäische Union und Deutschland wollen den Einsatz von Wasserstoff jedoch vorrangig in Bereichen voran treiben, in denen es keine oder nur wenige Alternativen gibt, wie in der Stahlerzeugung oder in der Luftfahrt. Diese Sektoren werden jedoch erhebliche Subventionen benötigen, um den Wechsel zu Wasserstoff oder synthetischem Treibstoff zu vollziehen. Im Moment sehen wir leider eher einen Subventionshochlauf als einen Markthochlauf. Und das ist genau das, was in der PV-Industrie passiert ist.
Eine Frage ist unausweichlich, wenn es um den Ramp-up des Wasserstoffmarktes geht: Wo steht der VDMA bei der Wasserstoff-Farbwahl: grün, blau oder grau?
Sicherlich spielt grauer Wasserstoff in einer klimaneutralen Welt keine Rolle mehr. Ich denke, darüber können wir uns alle einig sein. Für blauen Wasserstoff aber wird es für den Übergang eine wichtige Rolle in Europa geben. Die chemische Industrie nutzt heute grauen Wasserstoff, der durch Dampfreformierung aus Erdgas hergestellt wird. Eine Substitution durch blauen Wasserstoff, bei dem CO2 gespeichert oder in anderen Prozessen genutzt wird, ist aus unserer Sicht ein wichtiger Beitrag zu unseren Klimazielen. Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Länder auf dem Weg zur Klimaneutralität sind. Es wird zahlreiche Technologien und Pfade geben – und einer davon wird blauer Wasserstoff sein, auch über das Jahr 2050 hinaus. Denn blauer Wasserstoff aus Methanolpyrolyse könnte eine wettbewerbsfähige Alternative zu grünem Wasserstoff aus Wind- oder Solarstrom sein.